Der Berg Giovo


Es sind jetzt schon mehrere Monate, seit ich mit meinem Hund in den Apuanischen Alpen laufen gehe und es ist mir aufgefallen, dass er unsere täglichen eineinhalb, zweistündigen Spaziergänge die toskanischen Hügel hinauf und hinunter nicht mehr besonders ernst nimmt. Für ihn scheinen sie eine Kleinigkeit geworden zu sein und ich muss gestehen dass es mir irgendwie genau so.

 

Als Stefano Pucci den Ausflug auf den Monte Giovo vorschlug, habe ich die Beschreibung der Wanderung zwar gelesen, aber etwas oberflächlich (Stefano‘s Wanderungen sind eine Garantie) und im Handumdrehen waren wir in Borgo in Mozzano, wo wir uns gewöhnlich treffen und bereit, loszufahren.

 


Wie bei der Wanderung zu den  Romecchio Gipfeln vor ein paar Wochen war es vorgesehen, von der Berghütte Santi aus loszuwandern. Wir Menschen neigen dazu, schlechte Erfahrungen zu vergessen. Mir geht es genauso, denn sonst hätte ich mich beim lesen „Berghütte Santi“ daran erinnern müssen, wie steil die ersten tausend, zweitausend Meter waren, die wir in keiner Weise hätten vermeiden können.

 

 

Nach nicht ganz einer Ewigkeit aber fast stießen wir am Ende des Buchenwaldes auf eine riesige Wiese, die mit typischem Berggras, Erika, Wacholder- und Heidelbeerstauden bedeckt war. Nachdem wir ein paar Handvoll Blaubeeren gepflückt und unter den Wanderern verteilt hatten, kamen wir nach ein paar hundert Metern an einer Reihe von Wegweisern vorbei, die mir klar machten, dass es ernst wird.  Tatsächlich befanden wir uns zum Teil auf dem Weg 00, d.h. dem  Hauptweg des Apennin-Kamms, der sich zweitweise mit dem GEA = (Grande Escursione Appenninica) verschmilzt. Wir waren zudem auch auf dem 7.960 km langen „Sentiero Italia CAI“, der über die Gipfel des ganzen Landes führt. Was soll ich sagen? Zukünftige große, Projekte mit einem Hauch Abenteuer vermischt begannen langsam, mir wie ein köstlicher und unwiderstehlicher Duft in die Nase zu steigen.

 

 

Vor uns schlängelte sich ein Weg der zwar so schmal war, dass man nur einen Fuß auf einmal vor den anderen setzen konnte, was in jedoch nicht unbedingt unbequem machte. Die Seiten waren zeitweise zehn bis fünfzehn Zentimeter tief, aber so gleichmäßig glatt als wären sie mir der Schere geschnitten worden. Stefano erklärte uns, dass wir Wanderer durch unsere Ausflüge den Weg so geebnet haben, dass mit der Zeit ein schmales  Bett entstand, auf dem das Wasser bei starkem Regen bergab ins Tal hinunter fließt. Er wies uns auch darauf hin, dass sich bestimmte Pflanzen nach und nach immer weiter bergauf ansiedeln und dass das, was wie ein ausgebranntes Feuer aussah, in Wirklichkeit die Reste eines riesigen Steines waren, den ein Blitz in tausend Trümmer zerschlagen hatte.

 


In der Zwischenzeit gingen wir bergauf und bergauf und bergauf, mein Hund immer am Anfang der Reihe mit dem Führer, ich am Ende, um zu fotografieren. Mit den Temperaturen hatten wir etwas Schwierigkeiten. In der Sonne war es so heiss, dass wir unsere Windjacken ausziehen, im Schatten dann allerdings sofort wieder anziehen mussten, weil es richtig kalt war. Nach etwa eintausendsiebenhundert Metern der neunzehnhunderteinundneunzig, die wir zurücklegen mussten, haben mir die scharfen Windböen buchstäblich den Atem genommen und es ist mir wirklich schwer gefallen, weiterzugehen.

 

 

Die berühmten „zehn Minuten“ bis zum Erreichen des Gipfels, von denen die Wanderer gesprochen hatten die bereits auf ihrem Rückweg waren, wollten tröstlich sein, waren aber schlicht gelogen. An ihrer Stelle hätte ich natürlich das Gleiche gesagt.

 

 

Beim Versuch zu atmen kam mir in den Sinn, dass ich in Adelboden in der Schweiz in 1350 Metern Höhe Ski gefahren bin und auch die 1620 Meter von Zermatt hatten mir keine Schwierigkeiten bereitet. Ich hatte sogar im französischen Courchevel in einem Hotel in 1850 Metern Höhe übernachtet; in einem anderen Leben, ohne Zweifel.

 


Am Ende, fast eine halbe Stunde später und mit Hilfe einiger Mitglieder unserer Gruppe, kam auch ich zum fast vier Meter hohen,   einhundertachtzig Kilo schweren Kreuz. Bei dem Gedanken an die Jungen, die im fernen 1963 die Teile hinaufgeschleppt  und das Kreuz zusammengebaut hatten, kamen mir meine Schwierigkeiten völlig nebensächlich vor.

 

 

Ich weiß nicht warum, aber ich habe immer gedacht unsere Ausflüge würden sich  auf Menschen in den Vierzigern oder Fünfzigern beschränken. Stattdessen wimmelte es von jungen Leuten, viele mit Hunden und da waren sogar Grundschulkinder mit ihren Eltern. Ich fand es sehr interessant, dass wir auf der einen Seite den Apennin und auf der entgegengesetzten Seite die Apuanischen Alpen sehen konnten. Theoretisch hätten wir auf den Bergkämmen des „Sentiero Italia” entlang, auf dem wir uns befanden, Tage-, Wochen-, Monate- oder Jahrelang weiterwandern können. Der Sinn für Raum und Zeit schien zu verblassen wie die Gipfel der Berge, wenn der Nebel aufsteigt.

 

 

Nach einem köstlichen, oder besser gesagt, sparsamen Mittagessen, Plaudern mit anderen Wanderern  und vielen Fotos war es an der Zeit, wieder ins Tal hinabzusteigen, allerdings nicht ohne einen letzten Blick auf die atemberaubenden Berggipfel um uns herum zu werfen. Wer weiß, ob sie in Zukunft nicht von jemandem aus unserer Gruppe (von mir zum Beispiel) bestiegen werden.

 


 

Man muss die Dinge beim Namen nennen was heißt, dass der Abstieg schier kein Ende nehmen wollte. Unsere Füße taten weh, die Energiereserven waren auf dem Minimum, das Trinkwasser war knapp und wenn Worte aus dem einen oder anderen Mund fielen, dann nur ganz sparsam.  Trotzdem hatten wir Glück, denn unser Adrenalinspiegel (auch der meines Hundes) schoss in die Höhe, als ein schwarzes Schaf mit schön großen Hörnern aus dem Nichts auftauchte und sich zu uns gesellte. Anfangs wussten wir nicht ob es gefährlich war oder es sich nur verirrt hatte. Dann aber sahen wir, dass es hier zu Hause sein musste, denn es bewegte sich sicher auf dem Pfad, kletterte nach kurzer Zeit bergauf und verschwand.

 

 

Am Ende, völlig fertig  aber doch auch stolz über die Wanderung, die wir geschafft hatten, kamen wir zu unseren Autos und fuhren nach Hause zurück. Ich kann mir vorstellen, dass der nächste Morgen nicht nur für mich eine Tragödie gewesen ist, aber schon am Tag darauf spürte ich den Wunsch, wieder in den Apuanischen Alpen zurückzukehren und das Gefühl der totalen Freiheit wiederzufinden, das ich nirgendwo sonst auf der Welt gespürt habe.

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2 Comments

  1. Ruth Recher

    Es ist jedesmal ein grosses Vergnügen Deinen Bericht zu lesen. Ich freue mich schon auf ein neue Abenteuer von Dir!

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