Eine Nacht unter den Sternen


Als Stefano Pucci, ein erfahrener Bergführer der Apuanischen Alpen, vor ein paar Tagen den für den 13. August geplanten Ausflug veröffentlichte, wusste ich nicht so recht, ob ich teilnehmen sollte oder nicht. Das Programm war aber doch sehr verlockend:

 

 

– Aufstieg zum Monte Croce Berg, um den Sonnenuntergang zu bewundern.

– Abendessen unter den Sternen.

– Nachtfotos machen.

– in Freien übernachten.

– Zurück auf den Monte Croce Berg, um den Sonnenaufgang zu beobachten.

– Frühstück und Abstieg zu den Autos.

 


Ich hatte noch nie im Freien geschlafen, weshalb mir natürlich die richtige Ausrüstung fehlte. Zudem war nicht sicher, ob ich mich von meinen Verpflichtungen hätte befreien können. Tief in meinem Innern wusste ich aber, dass das alles nur Ausflüchte waren.  In Wirklichkeit habe ich jahrelang unter Agoraphobie gelitten und fühle mich auch heute noch an öffentlichen Orten oder weiten Flächen nicht  immer wohl. Eine willkommene Gelegenheit um herauszufinden, wie es heute mit meiner Angst steht.

 

 

Nachdem ich mich über die aktuellen Standards in Bezug auf einen geeigneten Rucksack (ja, es gibt tatsächlich auch Modelle für Frauen), einen nach Größe, Gewicht und Jahreszeit angepassten Schlafsack sowie eine Matratze (selbstaufblasbar) informiert und alles Nötige gekauft hatte, war ich bereit loszugehen. Ich fühlte mich wie ein Kreuzfahrtschiff auf der ersten Jungfernfahrt und freute mich darauf, die Anker zu lichten und gen neuer Horizonte zu segeln. Mehr als ein Kreuzfahrtschiff, das wurde mir später klar,  hätte ich mich eigentlich als Tanker bezeichnen müssen, der randvoll mit all dem vollgepackt war, was für den Ausflug nötig war.

 


Unsere bunt zusammengewürfelte Gruppe bestand aus neunzehneinhalb Mitgliedern, darunter ein Vater mit zwei Töchtern unter zehn Jahren,  junge Leute, einige weniger junge, ein langjähriger Freund … und mein Hund. Ich kannte die Strecke bereits, weil ich im Frühjahr mit Stefano Pucci hierher gekommen war, um die Narzissenblüte zu fotografieren, auf die kurz darauf die Peonienblüte folgte. Es war eine große Überraschung, die Wiesen immer noch mit Blumen bedeckt wiederzufinden. Dieses Mal waren es weiße Silberdisteln, die seit Jahrzehnten geschützt sind,  früher aber gepflückt wurden, um das Wetter vorauszusagen. Wenn sich die Blume trotz  strahlender Sonne nämlich nicht öffnet, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass es bald regnen wird.

 


Nach etwa dreißig bis fünfundvierzig Minuten erreichten wir das Basislager auf über tausendeinhundert Metern Höhe, wo wir Rucksäcke, Zelte, Lebensmittel und Schlafsäcke zurückließen, um den Aufstieg zum Metallkreuz auf dem Gipfel des Berges bequemer fortsetzen zu können. Wir wollten beobachten, wie die Sonne langsam verblasst und dann unter dem Horizont untergeht. Die Farben  waren unglaublich schön und intensiv, aber gleichzeitig auch weich und zart wie Samt oder Seide auf der Haut. Es schien, als würde sich die Erde öffnen, damit wir uns in ihrer beruhigenden und liebevollen Umarmung gehen lassen könnten. Wir brauchten keine Angst vor der Nacht zu haben, denn Mond und Sterne würden über uns wachen. Nach der Morgendämmerung wäre die Sonne aufgegangen und ein neuer Tag angebrochen, der darauf wartete, gelebt zu werden.

 

 

Es war fast dunkel, als wir mit unseren Stirnlichtern versehen langsam Schritt für Schritt im hohen Gras den steilen Weg hinab zu unserem Basislager abstiegen. Dort wartete ein deftiges Abendessen bestehend aus verschiedenen Wurstwaren, Schwarzbrot, frischen Kirschtomaten und von unserem Bergführer selbstgekelterten Wein auf uns. Als Nachtisch gab es Kuchen mit Feigenmarmelade und einen selbstgemachten Holunderblütenlikör, der zum Meditieren einlud und Stefano hat denn auch Überlegungen darüber angestellt wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.

 


In der Zwischenzeit war es fast Mitternacht, Zeit für einige Mitglieder der Gruppe schlafen zu gehen und für andere, das Sternbild des großen Wagens zu fotografieren (oder es wenigstens zu versuchen), das den Berg Pania zu berühren schien. Für mich war die Nachtfotografie eine absolute Neuheit, aber dank der Hilfe einer anderen Fotografie-Begeisterten konnte ich Aufnahmen von Sternschnuppen und sogar von der Milchstraße machen.

 


Wir hätten um sechs Uhr aufstehen müssen, wenn wir die Sonne vom Monte Croce Berg aus begrüßen wollten, weshalb es klug gewesen wäre, sich ein paar Stunden hinzulegen. Ich kann nicht sagen, wie viele von uns wirklich geschlafen haben. Tatsache ist jedoch, dass ein bisschen von einer Seite und ein bisschen von einer anderen eine kleine Gruppe von „Musikern“ zusammenkam um uns mit weltweit bekannten „Klängen“ zu beglücken.

 

Ich wusste, dass ich kein Auge zugemacht hätte,  aber ich bin trotzdem in meinen Schlafsack geschlüpft und habe den Himmel  mit den leuchtenden jungen und den alten, sterbenden Sternen über mir beobachtet. Dabei habe ich  irgendwie Zeit, Ort, die Menschen um mich herum und  auch mich selbst verloren und dabei doch gefühlt, dass alles im Universum einen Platz hat und einen Grund zum existieren. Ich habe in mich hineingehorcht und versucht zu verstehen, wie ich ich mich auf der Wiese in völliger Dunkelheit und Stille fühle.

 

 

Irgendwann war es dann Zeit aufzustehen, Richtung Monte Croce Berg zu steigen und auf den Sonnenaufgang zu warten, wohl wissend, dass ein neuer Tag anbrechen würde, der in vollen Zügen gelebt werden wollte. Wir waren alle noch ziemlich schläfrig, aber niemand hätte diesen ganz besonderen Augenblick versäumen wollen.

 

 

Dann kehrten wir zum Basislager zurück und frühstückten mit einem oder zwei Stück Kuchen. Wer hatte trank dazu Wasser, was allerdings schwierig war, denn die Wurstwaren vom Abend zuvor sind doch ziemlich salzig gewesen. Jetzt hieß es nur noch unsere Sachen zusammenpacken und die Wiese so sauber und ordentlich zu verlassen wie wir sie vorgefunden hatten und am Ende zu unseren Autos zurückwandern.

 


Mein Hund, ein holländischer Schäferhund der sich die ganze Zeit um „seine Herde“ gekümmert hat, nahm seine Aufgabe auch nach Sonnenuntergang sehr Ernst. So sehr, dass er die ganze Nacht wachsam bei uns saß ohne sich ein kleines Nickerchen zu gönnen. Zweifellos witterte  er den Geruch der Tiere um uns herum, die von uns Eindringlingen sicher nicht allzu begeistert waren.


Stefano Pucci organisiert diese besondere Wanderung nur einmal im Jahr. Ich habe schon für nächstes Jahr gebucht. Mein Hund übrigens auch. Ob ich Lust habe an einem Konzert mit fünfzigtausend Menschen teilzunehmen? Ich arbeite daran…

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2 Comments

  1. Ruth Recher

    So gut erzählt, ich war in Gedanken dabei!

    1. Agnese

      Es war ein ganz spezielles Erlebnis.

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